Gefühlt
Es ist sicher schon in den Feuilletons abgehandelt worden. Da Jesse Rich aber kein Feuilleton liest, hier eine Betrachtung über einen Unwort-des-Jahres-Kandidaten: GEFÜHLT.
Michael Friedmann hatte "gefühlte" 300 Interviewfragen vorbereitet; Michael Ballak ist während eines Spiels "gefühlte" 100 Kilometer gelaufen. Wir haben "gefühlte" 3 Stunden auf unser Essen gewartet. Was damit ja gemeint ist, ist der Unterschied zwischen Sein und Schein zum Zwecke der dramaturgischen Übertreibung. Gleichzeitig ein Ausdruck des Understatement, der schreiberischen Coolness, der scheinbar gekonnten Flapsigkeit des Autors. Anfangs charmant, inzwischen nervig, so wie das berühmte Boxenluder der Bildzeitung. Verantwortlich für dieses neue Unwort ist, man hat es vielleicht schon vor lauter gefühlten Ereignissen vergessen, das Wetter. Bei kalten Temperaturen "fühlen" wie noch kältere, sobald der Wind weht. Es können draußen 10 Grad sein, und wir finden, es sei kälter. Der Wettermann spricht dann vielleicht von "gefühlten" 5 Grad, wobei ich mich schon immer fragte, wie man das misst. Soweit, so gut. Dann kam irgend jemand auf die Idee, dieses Wettergefühl zu zweckentfremden. Und nun haben wir den Salat. Jeden Tag ein neues Gefühl. Dieser Artikel sei gefühlte 1.000 Wörter lang, könnten Sie beispielsweise sagen, um auszudrücken, dass Sie sich langweilen. Man kann es auch positiv sehen: Es wird wieder mehr gefühlt. Und da Jesse Rich schon seit gefühlten 2 Tagen nichts mehr gegessen hat, hört er jetzt auf und macht sich Frühstück.
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